Earthbound

Was lange währt…

2003 erscheint in Japan eine Neuauflage der ersten beiden Teile der Mother-Serie für den Game Boy Advance. Und just zu diesem Zeitpunkt bin ich im Land der aufgehenden Sonne zu Gast. Ohne den Hauch einer Ahnung was Mother eigentlich ist, aber an wirklich jeder Straßenecke umgeben von Werbung, reißt mich der Hype um das Spiel einfach mit. Also ab in einen der unzähligen Elektromärkte. Einen GBA wollte ich ja sowieso noch kaufen. An das Gesicht des Verkäufers, als er den Gaijin erblickt, erinnere ich mich noch gut. Ähnliche Panik dann noch einmal an der Kasse. Man kann dem Ausländer ja guten Gewissens keine Konsole verkaufen, für die er zuhause möglicherweise gar keine passende Steckdose besitzt. Und die Spiele sind doch auch alle auf Japanisch. Es ist schon ein faszinierendes Erlebnis, wenn man erklären muss, dass man etwas wirklich kaufen möchte und gezwungen ist, zunächst alle Bedenken des Händlers aus dem Weg zu räumen. Ich habe damals schlicht gelogen und mich als Austauschstudent ausgegeben.

Gespielt habe ich Mother 1 dann ganze 10 Minuten. Es mussten erst noch einmal weitere 15 Jahre ins Land gehen, um zu verstehen, warum dieser Titel eigentlich so großartig ist. Damals fand ich ihn zunächst schlicht langweilig. Zumindest habe ich meine sonstigen Errungenschaften wie Super Mario Advance 2 und Castlevania: Circle of the Moon bis zum Erbrechen gezockt. Irgendwo im elterlichen Keller muss das Modul in seiner roten Originalverpackung noch liegen. Ob das inzwischen irgendwas wert ist? Den hellblauen Game Boy hat zumindest schon lange das Zeitliche gesegnet.

2003 ist dann auch noch gleich der Soundtrack des Spiels mit in meinen Reisekoffer gewandert. Und hat die Erinnerung an Mother über all die Jahre hinweg wachgehalten. Das ist so vollendet kitschige Musik, dass ein Satthören daran schlicht unmöglich ist. Pollyanna (I Believe in You), gesungen von Catherine Warwick, hatte ich sogar ganz lange als Klingelton. Zu einer Zeit, als in Siemens Produktionsstätten noch Handys vom Fließband gepurzelt sind.

2017 dann die Erkenntnis, dass das originale Mother unter seinem englischen Titel „Earthbound“ nun endlich auch auf Nintendos virtueller Konsole erhältlich ist. Inzwischen schreibe ich fleißig an diesem Blog und ich könnte ja noch mal einen Versuch starten. Die Ernüchterung ist jedoch groß, als ich feststellen muss, dass die erste Generation des 3DS nicht unterstützt wird. Manchmal rächt es sich halt doch ein Early Adopter zu sein. Die rettende Idee kommt in Form meiner Wii U. Vielleicht kann ich Earthbound ja dort installieren. Und siehe da…wieder ein Jahr später kann es dann endlich losgehen. Ich starte einen erneuten Anlauf. Soll der Kauf des schwarzen Staubfängers doch nicht ganz umsonst gewesen sein.

…wird mehr als gut!

Nahe des beschaulichen Städtchens Onett schlägt nächstens ein Meteorit ein und reißt den kleinen Ness aus seinem Schlaf. Raus aus den Federn, es gibt etwas zu entdecken. Auf dem Weg zur Einschlagstelle trifft der Junge auf den ebenfalls neugierigen Nachbarsjungen Pokey. Da aber an den von der Polizei errichteten Sperren zunächst kein Weg vorbeiführt, bleibt den beiden jedoch nichts anderes übrig, als enttäuscht wieder nach Hause zu trotten.

Als Pokey kurze Zeit später aber an Ness‘ Haustür klopft und ihn darum bittet, ihm bei der Suche nach seinem verschwundenen Bruder Picky zu helfen, gelingt es den beiden Buben sich bis zum Meteor durchzuschleichen.

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Dort treffen sie auf ein seltsames Insekt namens Buzz Buzz, das Ness erzählt, es komme aus der Zukunft. Gyigas der kosmische Zerstörer herrsche dort über die Welt und es gebe nur einen Weg ihn aufzuhalten. Ness müsse sich auf eine Reise begeben, um die Melodien von acht Heiligtümern einzusammeln. Mit deren Hilfe könne er dann Gyigas gegenübertreten und so die Welt retten. Und so beginnt ein Abenteuer, das bis zum Bersten vollgepackt ist mit Fantasie und Vielfalt.

Zunächst ein paar Worte zur eigentlichen Spielmechanik. Bei Earthbound handelt es sich um ein klassisches RPG. Soll heißen, man wandert durch die Spielwelt, führt Dialoge, wird mit Aufgaben konfrontiert und hat sich einer nicht abreißen wollenden Anzahl an Monstern zu stellen.

Dabei macht Earthbound als Rollenspiel in meinen Augen so gut wie alles richtig. Die eigentliche Mechanik ordnet sich ganz und gar der erzählten Geschichte unter. Auswürfeln von Charakteren, Punktevergabe bei Levelaufstieg, Ausprobieren von Waffen und Ausrüstungsgegenständen und vieles mehr braucht Earthbound nicht. Und wird auch erst gar nicht vermisst.

Um das Zusammenstellen der Party muss man sich schon einmal nicht kümmern. Zu Beginn startet man mit Ness, doch schnell wächst die Gruppe mit Paula, Jeff und Poo auf insgesamt vier Kinder an. Die Entscheidung, wen man aufnehmen soll und wen man besser zurücklässt, gibt es nicht. Gerade mal Paula oder Poo kommen für einige Zeit abhanden. Aber das ist so gewollt und Teil der Geschichte.

Ebenso wenig wird man zu einem extensiven Grinden von Erfahrungspunkten gezwungen. Das Verweilen an einem Ort in Kombination mit stupidem Monsterklopfen verschafft natürlich einen Vorteil, zwingend notwendig ist es aber nicht.

Auch das Ausrüstungsmanagement ist vorbildlich. Höherwertige Waffen und Rüstungen erkennt man auf den ersten Blick, sofort im Anschluss an den Kauf können diese ausgerüstet werden und der Händler nimmt die unnütz gewordenen Gegenstände anstandslos in Zahlung. Die Zahl der Inventarplätze pro Charakter ist zwar schmerzhaft begrenzt und schnell sammelt sich allerhand Schrott in den Rucksäcken der Kinder an. Aber auch hier weiß Earthbound Rat in Form eines Lieferservice. Besitzt man einen Gegenstand, den man entweder erst gar nicht wegwerfen kann, oder der später im Spiel noch dringend benötigt wird, so kann man einfach den Lieferservice anrufen, bei dem Ness Schwester jobbt. Sekunden später erscheint ein Kurier auf der Bildfläche und sammelt bis zu drei Gegenstände ein. Umgekehrt funktioniert das Ganze natürlich auch. Einfach anrufen und sich einen eingelagerten Gegenstand vorbeibringen lassen. Ganz toll gemacht.

Geld ist Dank Ness‘ Vater sowieso nie knapp. In regelmäßigen Abständen überweist der hart arbeitende Mann einen Obolus auf das Konto seines Jungen. Selbst zu Gesicht bekommt man ihn im gesamten Verlauf der Geschichte zwar nie, da er Tag und Nacht in seinem Büro zu verbringen scheint, aber man erreicht ihn dort jederzeit telefonisch und kann so den Spielstand speichern. An jedem Geldautomaten im Spiel kann dann mit einer Kreditkarte abgehoben werden und schnell besitzt man einen solch irrwitzigen Reichtum, dass Geldsorgen erst gar nicht aufkommen.

Übermäßiges Kämpfen ist auch eine Sache, die in RPGs schnell lästig wird. Ein jeder Spieler der frühen Final Fantasy Titel weiß davon ein Klagelied zu singen. Zwei Meter vorwärts, Kampf. Wieder zwei Meter weiter, erneuter Kampf. Immer und immer wieder. Mit Schrecken erinnere ich mich an die Zufallskämpfe beim Wandern über die Weltkarte von FFVII. Auch hier kennt Earthbound eine Lösung. Ist man den Monstern, die einen bestimmten Spielabschnitt bevölkern, erst einmal haushoch überlegen, so gehen diese einem einfach aus dem Weg. Sollte es dennoch hin und wieder zu einem Kampf kommen, so wird dieser automatisch beendet und die gewonnen Erfahrungspunkte werden gutgeschrieben. Einfach super.

Dann ist da natürlich noch der Teleporter, eine PSI-Fähigkeit, die Ness im Verlauf des Spiels erlernt und die ein schnelles Reisen von A nach B ermöglicht.

Und weiß man übrigens mal wirklich nicht weiter, so kann man an jedem Ort einen NPC um Rat fragen.

All dies macht das Spielen zwar bequem, aber einfach ist Earthbound deswegen noch lange nicht. Ganz im Gegenteil, es handelt sich um ein ziemlich schweres Spiel. Unzählige Male sah ich mich gezwungen, zunächst den Rückzug anzutreten, schwächere Charaktere im Krankenhaus zu heilen, oder eine Rast in einem der Hotels einzulegen, um knapp gewordene Lebens- und PSI-Punkte aufzufrischen. Oft liegt der letzte Speicherpunkt eine gute Weile zurück, so dass ein temporärer Tod einen ziemlichen Weg nach sich zieht. Gerade hier kam mir die Speicher-Funktion Nintendos virtueller Console entgegen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt kann so der Spielverlauf gesichert werden. Das mindert den aufkommenden Stress gewaltig. Ein richtiges Game-Over gibt es bei Earthbound Gottseidank sowie so nicht.

Nach etlichen Stunden Spielzeit bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei Mother 1 um eines der besten Spiele handelt, das ich je in Händen halten durfte. Das Modul 2003 so schnell wieder beiseite zu legen war pure Idiotie. Und die bereits beschriebenen Annehmlichkeiten sind nur ein Bruchteil dessen, was den ersten Teil der Reihe so großartig macht.

Da ist zum einen der Mut des Schöpfers Shigesato Itoi, Kinder in das Zentrum der Geschichte zu stellen. Keine erwachsenen Ritter, Zauberer oder Diebe. Nein Kinder (wenn auch ausgestattet mit PSI-Fähigkeiten). Sofort fühle ich mich unweigerlich an Filmklassiker wie E.T., Goonies oder ES erinnert. Und natürlich auch an Netflix‘ Erfolgsserie Stranger Things. All die Ausrüstungsgegenstände im Spiel sind folglich auf Kinder zugeschnitten. Als Schutzschild dient zum Beispiel ein riesiger Plüschteddy, der die Hiebe der Gegner abfängt, bis letztendlich seine Nähte nachgeben. Auch verlaufen die rundenbasierten Kämpfe nicht einfach nach Schema F. Anstelle anzugreifen, kann es zum Beispiel passieren, dass Ness sein Heimweh überfällt und er sich schlicht weigert, eine Aktion auszuführen.

Dann ist da das Setting. Keine klassische Fantasy- und Mittelalter-Welt, sondern ein fiktives Amerika der 60er Jahre. All die kleinen und liebevollen Details wie Fahrräder, Kaufhäuser, die Diner und und und.

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Ein jeder Abschnitt des Spiels folgt dabei seinem ganz eigenen Stil. Sei es Onett, die Stadt Four Side, ihr Gegenstück Moonside, Dusty Dune Desert, der Ferienort Summers oder aber Saturn Valley. Ein kurzer Blick und man weiß sofort, wo man sich befindet.

Selten habe ich originellere Gegner als bei Earthbound angetroffen. Master Criminal Worm, Spiteful Crow, Skate Punk, Cranky Lady, Territorial Oak und so viele mehr. Wer will, der kann mal einen Blick auf diese Übersicht werfen.

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Earthbound ist so voller Humor. Da ich die englische Übersetzung gespielt habe, weiß ich leider nicht, wieviel davon bereits im japanischen Original angelegt ist, und was möglicherweise vom Übersetzer für den westlichen Spieler angepasst oder hinzugefügt wurde. Klasse ist zum Beispiel die Band „Runaway Five“, die es schafft in jedem Ort ihrer Tour an einen windigen Konzertveranstalter zu geraten, aus dessen Knebelvertrag man sie im Verlauf des Spiels mehr als einmal freikaufen muss.

Hinzu kommt, dass die Story nicht linear verläuft. Vielmehr bietet das Spiel bei der Suche nach den acht Heiligtümern die Möglichkeit, sich für unterschiedliche Wege zu entscheiden.

Und dann ist da noch das große Finale. Der Kampf gegen den Endboss Gyigas. Hier wird klar, worum es in Earthbound eigentlich geht. Nämlich um Freundschaft und die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Daher auch der Name des Spiels. Wartet Gyigas mit seiner letzten großen, alles vernichtenden Attacke auf, so beginnt Paula zu beten. Und erreicht mit ihrem Flehen all die Charaktere, die die Kinder im Verlauf des Abenteuers unterstützt haben. Einer nach dem anderen sendet seinen Segen aus und steht den Kindern so in ihrem alles entscheidenden Moment in Gedanken bei. Inklusive Ness‘ Mutter, die ihr Kind voller Vertrauen auf seine lange und gefährliche Reise hat ziehen lassen.

Und auch der Spieler selbst wird mit einbezogen. Während des Spielverlaufs wird man immer wieder nach seinem Namen gefragt. Erst am Ende wird klar, warum man sich im Spiel verewigen musste. Auch an den Spieler richtet sich Paulas Ruf nach Unterstützung und reißt somit die Barriere zwischen Spiel und Spieler ein. Ähnlich dem Ende der Verfilmung von Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, als die kindliche Kaiserin den Jungen Bastian bittet, ihr einen Namen zu geben.

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Jetzt endlich verstehe ich, warum Earthbound immer wieder auf der Liste der besten Spiele aller Zeiten auftaucht. Das muss man wirklich gespielt haben. Und ich bin froh, dass mein eineinhalb Jahrzehnte zurückliegendes Unvermögen dann doch noch solch ein versöhnliches Ende gefunden hat.

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